Die Debatte über Nachtrennungssorge in Deutschland
Politik
Sorge für unsere Kinder auf mehrere Schultern verteilen
offener Brief an die Koalitionsparteien der Bundesregierung vom 25. November 2021 (als pdf)
Wir bitten Sie, die gemeinsame Verantwortungsübernahme für das Wohlergehen unserer Kinder im künftigen Regierungsprogramm zu verankern. Die partnerschaftliche Sorge aller Eltern für Ihre Kinder muss das Leitbild gesellschaftlichen Handelns werden. Dies gilt sowohl für zusammenlebende wie getrenntlebende Familien.
Die gemeinsame Verantwortungsübernahme braucht insbesondere in Situationen, in denen die Eltern nicht zusammenleben, mehr Unterstützung.
In einem ersten Schritt sind endlich die bestehenden Hürden zu beseitigen.
Ernährermodell ist überholt
Der bestehende rechtliche Rahmen, die Familienintervention und die Rechtspraxis fördern Elternspezialisierung auf Alimentierung auf der einen und Sorge auf der anderen Seite. Dies ist nachweislich nicht im Sinne des kindlichen und elterlichen Wohlergehens, zudem ungerecht und daher streitfördernd. Begriffe wie „Umgang“ und „hauptbetreuender Elternteil“ sind hierarchisch konnotiert und mit geteilter Verantwortungsübernahme nicht vereinbar. Das zirkuläre Argument, dass nur wenige Eltern in Deutschland partnerschaftliche Sorge praktizierten, und es deshalb beim status-quo bleiben solle, ist vor dem Hintergrund der rechtlichen Fixierung des Ernährermodells unlauter.
Finanzielle Fehlanreize
Die gemeinsame Verantwortungsübernahme darf nicht durch finanzielle Fehlanreize konterkariert werden. Kein Elternteil soll aus finanziellen Motiven Partnerschaftlichkeit und geteilte Sorge ablehnen. Dies betrifft das Ehegattensplitting genauso wie Kindergeld, Kindesunterhalt und sonstige Transferleistungen.
Ein politisches und rechtliches Leitbild paritätisch geteilter Sorge (auch nach Trennung) hätte Strahlwirkung in die Gesellschaft. Das Leitbild trüge dazu bei, auch bestehende innere Hürden für eine geteilte Verantwortungsübernahme, die auf überholten Geschlechterbildern und falschen biologistischen Annahmen beruhen, zu verringern. Die wissenschaftliche Erkenntnis, dass die Befähigung zur Sorge und eine entsprechende Sensibilität keine Frage des Geschlechts ist, sollte entsprechend Eingang in die Lehrpläne an Schulen finden.
Ein Leitbild geteilter Sorge würde uns als Gesellschaft nach Wegen suchen lassen, die gemeinsame Sorge zu ermöglichen (statt sie als Sonderfall zu betrachten). Wir würden uns nicht länger mit Scheinargumenten der Kategorie „zu anspruchsvoll“ oder dem „deutschen Wesen nicht angemessen“ zufriedengeben. Ein solches Leitbild wäre wahrhaft ein „Aufbruch“
Wir bitten die Koalitionspartner, das Leitbild der tatsächlichen gemeinsamen Sorge in aller Deutlichkeit gesetzlich zu verankern und die Ermöglichung der partnerschaftlichen Sorge als Querschnittsaufgabe über alle Ressorts hinweg zu begreifen.
Dies sind wir unseren Kindern schuldig
Position des Verbands zum Unterhaltsrecht
1) Das Prinzip „Entweder Barunterhalt oder persönliche Sorge“ ist überkommen und muss durch ein zeitgemäßes Prinzip der gemeinsamen Verantwortung beider Eltern abgelöst werden.
2) Im Falle einer gelebten gemeinsamen persönlichen Betreuung beider Eltern, die über gelegentliche Besuche hinausgehen (z.B. Betreuungsanteil > 25 %), wird der Barunterhaltsanspruch des Kindes entsprechend gekürzt, denn der barunterhaltspflichtige Elternteil tätigt auch erhebliche eigene Aufwände für das Kind.
3) Kinderbetreuungszeiten werden für beide betreuenden Elternteile anerkannt – unabhängig, ob vor oder nach einer Trennung – und zwar als anteilige Rentenanwartschaft in Höhe des Rentenausfalls wegen einer Teilzeittätigkeit zwecks Kindesbetreuung. Nach einer Trennung steht der Alleinerziehendenfreibetrag im Zweifelsfall beiden Elternteilen zu.
4) Um keinen falschen Anreiz für einen Streit über die Betreuungsanteile der Eltern zu setzen (wie er derzeit besteht), wird empfohlen, ein Leitbild der Doppelresidenz im Familienrecht und nachgeordneten Rechtsbereichen* zu verankern.
5) Zur Vermeidung von Härten nach Einführung des neuen Unterhaltsmodells (Reduzierung bestehender Unterhaltsansprüche) sind verschiedene Lösungsansätze für laufende Unterhaltsansprüche denkbar.
Die derzeitige Rechtslage ist grob unbillig, denn sie lässt die erheblichen materiellen Aufwände eines betreuenden Elternteils völlig außer Acht.
Die Zahlung von Unterhalt darf zudem nicht dazu führen, dass sich Eltern die Betreuung Ihrer Kinder nicht leisten können oder Betreuung nicht teilen wollen.
Lediglich eine Minderheit besitzt die finanziellen Ressourcen, um den vollen Barunterhalt und eine umfangreiche Betreuung (e. g. annähernd hälftige) übernehmen zu können. Breite Einkommensschichten sind somit durch Unterhaltszahlungen von der substantiellen Betreuung nach Trennung – die gesellschaftlich wünschenswert ist – ausgeschlossen. Hauptbetreuende Elternteile wiederum haben keinen Anreiz, der hälftigen Verantwortungsübernahme des anderen Elternteils zuzustimmen, weil sich dadurch in der Regel auf einen Schlag Unterhaltszahlungen deutlich reduzieren oder ganz wegfallen.
Der VGE anerkennt, dass eine fundamentale Änderung des Unterhaltsrechts nicht zu neuen Härten führen darf. Diese Gefahr besteht insbesondere für diejenigen Elternteile, die sich ganz oder überwiegend der Kinderbetreuung verschrieben haben und davon ausgegangen sind, im Gegenzug Transferleistungen in Form von Unterhalt oder Unterstützung zu erhalten. Diese Eltern profitieren unter Umständen nicht von der substantiellen Übernahme von Betreuungszeiten durch den anderen Elternteil. Daher sollte eine Reform des Unterhaltsrecht mit Kompensationsmaßnahmen flankiert werden:
a) Finanzielle Absicherung
verpflichtender Aufbau von Rentenansprüchen für den hauptbetreuenden Elternteil durch den nicht- oder sehr wenig betreuenden Elternteil, sofern dieser leistungsfähig ist und sich nach Aufforderung zur Übernahme von substantieller Betreuung explizit dagegen entscheidet. Eine Betreuungsübernahme muss für beide Eltern zumutbar sein, d. h. keiner darf vom gemeinsamen Wohnsitz weiter als 20 km verziehen.
b) Wiedereingliederung
staatliche Bonuszahlung (an Arbeitgeber) und wo nötig staatliche Gehaltsaufstockung oder steuerliche Anreize für Elternteile, die sich nach längerer Kindererziehungszeit wieder in den Arbeitsmarkt integrieren müssen
Bundestagsdebatte Doppelresidenz
Am 15. März 2018 hat der Deutsche Bundestag über einen Antrag der FDP Fraktion (wie einen Gegenantrag der Linken), die Doppelresidenz als Regelfall zu etablieren, debattiert.
In den Redebeiträgen der Parlamentarier/innen wurde deutlich, dass die Parlamentarier über die neueste empirische lebenswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Forschung nicht ausreichend informiert sind. Dementsprechend bemühen sie häufig dieselben Vorurteile und Stereotype , die die gesellschaftliche Debatte in den Medien und den sozialen Netzwerken seit Jahren belasten.
Die wichtigsten Irrtümer und Vorurteile haben wir zum Anlass der Bundestagsdebatte aufgelistet und widerlegt und zum Nachlesen mindestens eine namhafte Quelle genannt.
Zum Nachlesen der Debatte das stenographischen Protokoll der Sitzung (ab S. 1702).